(Foto: Günther Jockel)
Darmstädter Echo, 24. August 2006
Hier wird der Mensch zur Ameise Der Darmstädter Waldkunstpfad fordert die tätige Neugier der Besucher heraus – Eröffnung am Samstag
DARMSTADT. Es bleibt spannend. Am Samstag wird der Darmstädter Waldkunstpfad eröffnet, und noch hat Edgardo Madanes seinen geflochtenen Globus noch nicht in die Höhe gehoben.
Die unregelmäßigen Meridiane aus Weidenstäben müssen noch mit Lederbändern verknüpft werden. Dann wird das riesige Gebilde den Blick der Spaziergänger an der Kreuzung von Herrgottsbrunnenweg und Alter Bogenschneise nach oben lenken, gleichsam als Ausrufezeichen für den Beginn des Kunst-Parcours.
Der „blaue Waldglobus“ ist hohl: Der argentinische Künstler schätzt die leeren Räume, weil sie von der Fantasie gefüllt werden können.
Die tätige Arbeit der Fantasie wird in den nächsten Wochen vielfach herausgefordert werden bei den Spaziergängern auf dem Parcours von Kunst und Natur, der sich zwischen Polizeipräsidium und Böllenfalltor, Cambrai-Fritsch-Kaserne und Ludwigshöhe erstreckt. Zum dritten Mal hat der Darmstädter Verein für Internationale Waldkunst seine Biennale arrangiert und Künstler aus vielen Teilen der Welt dazu eingeladen.
Der Weg ist länger geworden: Vor zwei Jahren war man auf dem Waldkunstpfad 2,6 Kilometer unterwegs, nun sind es 700 Meter mehr. Aber nicht nur deshalb wird man sich mehr Zeit vornehmen müssen als bisher.
Der neue Jahrgang hat besonders viele Werke hervorgebracht, die den Besucher herausfordern, sich mit ihnen zu beschäftigen. Da ist zum Beispiel das „Baumkino“ der Bochumer Bildhauerin Dorothee Bielfeld. Man muss zwischen den flachen Kästen herumgehen und die Perspektive mehrfach wechseln, um den Reiz der Idee vollständig auszukosten.
Bielfeld liebt den Wald und vor allem die sehnsuchtsvollen Blicke in die unerreichbaren Baumwipfel. Würde man hochklettern, wäre die Sehnsucht gestillt – und damit futsch. Die Künstlerin aber holt die Baumwipfel auf den Boden. Spiegelflächen aus Plexiglas zeigen den Himmel auf der Erde, und weil die grünen Buchenblätter neben dem braunen Laub des Vorjahres zu sehen sind, stellt das ebenso schlichte wie schöne Arrangement eine kleine Studie der Vergänglichkeit an.
Die Installation soll eine Beziehung zwischen Mensch und Natur aufbauen, und das haben gewiss viele der Arbeiten im Hintersinn. Indem Menschenhand sie verändert, wird Natur als solche sichtbar.
Jems Robert Koko Bi etwa macht eine natürliche Kuhle zum Amphitheater mit sechzig leidlich bequemen Baumsitzen. Ein Psychoanalytiker hat am Konzept mitgearbeitet; der diesjährige Waldkunstpfad trägt nämlich den Titel „Laboratorium“ und will die Kunst mit der Wissenschaft verknüpfen, weshalb jedem Künstler ein Forscher aus verschiedenen Disziplinen zur Seite gestellt war.
Der Psychologe dürfte an dem etwas gedrechselten Werktitel „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ nicht ganz unschuldig sein. Jems Koko Bi hat seine Arbeit schon umgetauft. „Menschenerde“ heißt sie jetzt.
Nicht weit entfernt ermuntert Waltraud Munz den Menschen dazu, in die Erde hineinzukriechen wie eine Ameise. Weil man Menschen nicht so ohne weiteres auf Ameisengröße bringen kann, hat die Künstlerin den Herrgottsberg zum riesigen Ameisenhügel erklärt.
Sechshundert schimmernde Ameisenflügel aus Folie, beschichtet mit lichtbrechenden Pigmenten, weisen den Weg. Durch sie angelockt, gelangt man in dunkle Gänge, die unter einem Tarnnetz verborgen sind.
Der Ausflug in den dunklen Tunnel ist sicher nicht jedermanns Sache. Angst, dass die Konstruktion zusammenbricht, muss man immerhin nicht haben; der wissenschaftliche Berater war in diesem Fall ein Architekt.
In der Höhle riecht es merkwürdig. Ameisen produzieren diesen Duft mit einer Drüse. Aber weil ihr diese Drüse fehlt, erklärt die Künstlerin fröhlich, hat sie die entsprechenden Öle in der Apotheke besorgt.
Munz bringt den Menschen auf Ameisenmaß, ihre amerikanische Kollegin Jennifer Robin Angus vergrößert die Ameisen: Tausend von ihnen scharen sich um einen Baum, so sorgsam angeordnet auf einem Netz, dass die schwarz-roten Leiber ein hübsches Muster ergeben.
So illustriert Angus das Grimm-Märchen „Die Bienenkönigin“, in dem ein Heiratskandidat die Perlen seiner Braut sammeln muss und dabei Hilfe von Ameisen erhält. Das Netz, das die Plastiktiere verbindet, hat noch einen anderen Zweck.
Es hält davon ab, eine Ameise als Souvenir mit nachhause zu nehmen. Dass Kunstwerke beschädigt werden, sagt Gotthard Scholz-Curtius vom Waldkunst-Verein, ist leider nicht selten.
Die Gefahr wird dort besonders groß sein, wo Kunst nicht ohne weiteres als solche zu erkennen ist. Neben dem Goethe-Felsen etwa liegt eine alte Hose auf der Bank und ein Karohemd, eine Thermoskanne steht daneben, eine Glasscheibe lehnt auf dem Boden. Beim Blick in die Baumkrone ahnt man allerdings, dass es sich nicht um das verlassene Lager eines Wohnsitzlosen handelt.
An einem Strick baumeln Schuhe. Von einem Verbrechen, bei dem ein Glasermeister in einen Baum gehängt wurde, berichtet Paul-Hermann Gruner in einer Kurzgeschichte, die in der Waldkunstbroschüre steht. Alba d’Urbano und Jörg Brombacher haben die im Text angedeuteten Taten in szenische Arrangements gefasst.
Sie haben ihre Sache gut gemacht, denn es gab Spaziergänger, die sich an die Polizei gewandt haben, um die Verbrechen zu melden. Der Wald, sagt d’Urbano, ist in den Medien oft Kulisse für Gewalt und Tod. Das Projekt „Natura morta“ soll an die Ängste erinnern, die mit diesem Ort verbunden waren.
Aber wie ursprünglich ist der Kunstwald dicht am Rande der Großstadt? Als die ecuadorianische Künstlerin Manuela Ribadaneira eingeladen wurde, hatte man ihr einen wilden Wald als Arbeitsplatz versprochen. Aber was sie vorfand, war überraschend ordentlich gepflegt.
Die Künstlerin, die sich für Grenzlinien interessiert, hängt einen Zaun aus durchsichtigem Kunststoff in die Bäume: eine der stilleren Arbeiten am Rande des Pfades. Und doch wird man um sie herumgehen, ihr Geheimnis zu ergründen versuchen – und ganz anders in die Kunst eintauchen als beim gewöhnlichen Museumsbesuch.
Das ist das Geheimnis dieser Waldkunst: dass sie einerseits den Ort selbst verändert, andererseits aber durch die tätige Neugier der Besucher erst zu leben beginnt. Man muss die fünf Holzkästen öffnen, die der Schotte Alec Finlay im Wald versteckt hat: Drin findet man jeweils einen Stempel mit einem Gedicht, das man sich in die Programmbroschüre drucken kann – vorher auf einem anderen Blatt zu üben, ist übrigens nicht von Schaden. Hundert solcher Kästen verteilt Finlay weltweit, mit fünf „Letterboxes“ ist der Darmstädter Wald jetzt ein Schwerpunkt dieser Aktion.
Man kann sich in einen der Ballons hineinsetzen, mit denen Ernest Daetwyler eine Lichtung verzaubert. Am Projekt der transparenten Kugeln war ein Molekularbiologe beteiligt, und es gibt gewiss ein gescheites Konzept. Aber die im Wind schwebenden Skulpturen sehen einfach schön aus.
Man kann den hundert Meter langen Steg entlangklettern, den Pravdoliub Ivanov durch einen aufgelassenen Waldweg führt und der an einer Barriere endet – man kann sich vorstellen, wie sich am Wochenende die Kunstfreunde auf dem schmalen Weg aneinander vorbeizwängen, geduckt unter den Zweigen. Und natürlich wird man auch den Ludwigshöhturm besteigen, um die Klanginstallation von Lisa Kaftori mit Texten von Peter Handke zu erleben.
Ein Höhepunkt des diesjährigen Waldkunstpfades aber ist der Einfall Joachim Kuhlmanns. Der Darmstädter Bildhauer hat einen Pfad im Pfad ersonnen: Er führt einen sechshundert Meter langen Meditationsweg zwischen den Bäumen hindurch, markiert von Tafeln, die in Wadenhöhe philosophische Merksätze mitgeben.
Am Ende bilden fünf Buchen gleichsam ein Portal für eine Lichtung, die von großen Findlingen bestimmt wird. Kuhlmann hat sie freigelegt und auch ihre Anordnung verändert. „Das ist das Mindeste, was ich als Bildhauer machen kann“, sagt er. „Es soll ja nicht aussehen wie in der Spielkiste.“
Das Arrangement lässt die Kraft der Steine spüren. Die Steine sind 350 Millionen Jahre alte Zeugnisse von der Entstehung des Odenwaldes, erklärt die Geologin Jutta Weber. Und an der Hangkante, wo heute der Blick über die rheinische Tiefebene streift, dürfte vor 15 Millionen Jahren das Ufer eines Urmeers gewesen sein.
Daran kann man denken, wenn man, von den Zitaten am Wegesrand gesättigt, an diesen wunderbaren Platz gelangt. Kuhlmann könnte es gut verstehen, wenn man für diesen Besuch nicht das Wochenende wählt, an dem der Wald belebter ist als sonst. „Wenn man ganz alleine ist“, sagt der Bildhauer und blickt auf seine Steine, „kann das auf die Seele wirken.“
Johannes Breckner
24.8.2006